Seien wir ehrlich: Oft sind wir es nicht. Aber sollten wir? Ich denke: tendenziell ja.
Du kennst sicher Fragen wie: «Gefällt dir meine neue Hose?»
Hast du immer ehrlich geantwortet? Vermutlich nicht. Aber weshalb? Wann ist Ehrlichkeit schwierig? Wenn dir die Hose gefällt, wirst du problemlos ehrlich antworten, weil deine Antwort mit angenehmen Gefühlen verbunden ist - bei dir und beim Gegenüber. Schwierig wird es erst, wenn du befürchtest, dass deine ehrliche Antwort beim Gegenüber unangenehme Gefühle auslöst. Dies aus zwei Gründen: Einerseits möchtest du keine unangenehmen Gefühle auslösen, weil du möchtest, dass es allen Menschen gut geht. Und andererseits befürchtest du, dass die andere Person dich als Verursacher:in ihrer unangenehmen Gefühle sehen könnte und deshalb ablehnend reagieren könnte.
Stell dir vor, du antwortest im obigen Fall: «Ehrlich gesagt, gefällt mir die Hose an dir nicht. Irgendwie wirken die Proportionen seltsam.»
Wenn die Person ablehnend reagiert, sagt sie zum Beispiel: «Och nee. Ich habe die Hose extra gekauft, weil ich dachte, sie würde dir gefallen. Jetzt habe ich das Geld für nichts ausgegeben.»
Sie macht dich verantwortlich für ihre unangenehmen Gefühle und für die Verschwendung ihres Geldes. Möchtest du diese Verantwortung übernehmen? Natürlich nicht. Aber wieso?
Bedürfnis nach Akzeptanz, Zugehörigkeit und Verbindung
Wir möchten akzeptiert werden und zu anderen gehören – das gibt uns Sicherheit. Diese Sehnsucht hat tiefe Wurzeln: Vor Jahrtausenden lebten Menschen in kleinen Gruppen, und Ablehnung konnte den Tod bedeuten, weil man allein kaum überlebte. Auch heute prägt diese Angst vor Ausgrenzung unbewusst unser Verhalten.
Wie kann man ehrlich sein?
Eine Möglichkeit wäre der Versuch, rational zu entscheiden. Zum Beispiel: Ich sage ehrlich, dass mir die Hose nicht gefällt. Aber es könnte auch sein: Ich möchte, dass sich die andere Person gut fühlt, also lüge ich. Die rationale Strategie funktioniert auf die Dauer nur, wenn du damit auch gute Erfahrungen machst.
Meine Lieblingsstrategie ist die folgende: Ich frage mich: Was hätte ich in dieser Situation gerne? Würde ich eine ehrliche, dafür auch negative Antwort bevorzugen oder hätte ich lieber, die andere Person würde mich anlügen?
Wenn du die andere Person schon länger kennst und sich immer wieder ähnliche Situationen ergeben, gibt es eine weitere Lösungsmöglichkeit: Du kannst die Person ausserhalb einer solchen Situation fragen, welche Art von Antwort sie bevorzugt.
Schliesslich gibt es noch eine Überlegung, die dir helfen kann: Du kannst deine Perspektive auf die Ursache von Gefühlen verändern. Diese Perspektive ist eine, wie sie von Marshall Rosenberg, dem Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, beschrieben wurde:
Erstens: Unsere Worte sind nicht die Ursache von unangenehmen Gefühlen, sondern allenfalls Auslöser von Gefühlen. Die Ursache unangenehmer Gefühle liegt in der Erfüllung oder Nicht-Erfüllung von Bedürfnissen. Sind Bedürfnisse erfüllt (Nahrung), habe ich angenehme Gefühle (satt, wohl). Habe ich unerfüllte Bedürfnisse (Nahrung), erlebe ich unangenehme Gefühle (hungrig).
Zweitens: Jeder erwachsene und gesunde Mensch ist selbst verantwortlich für seine Gefühle und die Erfüllung seiner Bedürfnisse. Das heisst für mich: Ich bin verantwortlich für das, was ich nach bestem Wissen tue aber ich bin nicht verantwortlich für die Gefühle anderer Menschen und ich bin nicht verantwortlich für die Erfüllung der Bedürfnisse anderer Menschen.
Drittens: Menschen können grundsätzlich mit unangenehmen Gefühlen fertig werden. Wir dürfen anderen etwas zumuten. Meistens ist es uns selbst wichtiger, zu wissen, woran wir sind (d.h. eine ehrlich Antwort zu erhalten) als durch Lüge vor unangenehmen Gefühlen bewahrt zu werden.
Diese Perspektive kann insbesondere in Situationen der Reflexion wertvoll sein. Die Umsetzung im Alltag ist oft recht schwierig, insbesondere wenn die Gefühle sehr stark sind.
Wann lohnt sich Ehrlichkeit?
Es gibt keine generelle und richtige Antwort. Orientiere dich an den Bedürfnissen, die dir wichtig sind und setze dich für diese ein. Und wenn du ehrlich bist, verzichte auf moralische Urteile. Mehr dazu findest du hier.
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